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September 2016 - coolibri Düsseldorf

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I N T E R V I E W „ D

I N T E R V I E W „ D a s s m a n g a n z n a c h v o r n e w i l l , i s t e h k l a r “ Eine eigene Toilette ist ihm nicht wichtig. „Ich gehe dort, wo alle anderen gehen“, sagt Wilfried Schulz und hat das WC seines Intendantenbüros kurzerhand mit Bücherkisten zugestellt. Auch sonst kommt der neue Chef des Düsseldorfer Schauspielhauses unprätentiös daher. Alexandra Wehrmann hat ihn getroffen. Ein Gespräch über Herausforderungen, Galgenhumor und die Aufgaben des Theaters. Herr Schulz, Sie sind einer der erfolgreichsten Theaterintendanten im deutschsprachigen Raum. Was hat Sie an der Aufgabe gereizt, das Düsseldorfer Schauspielhaus zu übernehmen? Der Reiz für mich war, eine neue, eine schöne, schwierige und verrückte Aufgabe zu lösen. Ich stand vor der Frage: Nehme ich noch mal solch eine Herausforderung an? Das macht mir Spaß, birgt Risiken, heißt aber nicht automatisch, dass es gelingt. Sie haben zuletzt sieben Jahre das Staatsschauspiel Dresden geleitet. Wo sehen Sie die entscheidenden Unterschiede zwischen den Theaterstädten Dresden und Düsseldorf? Düsseldorf gilt ja als eher schwieriges Pflaster. Mit dem schwierig, das finde ich schwierig. Jeder Intendant behauptet von seiner Stadt, sie sei schwierig. Ich könnte Ihnen jetzt 15 schwierige Theaterstädte aufzählen. Düsseldorf hat gute und schlechte Zeiten gehabt. Das Wichtigste fürs Theater ist ja ohnehin das Publikum. Ich glaube, das Publikum hier ist nicht weniger offen als in anderen Städten. Es gibt also keinen Grund, wieso man nicht ein großes, lebendiges, von vielen gemochtes, gewolltes und gebrauchtes Stadttheater schaffen könnte. Es lastet ja kein Fluch auf dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Wie erschließen Sie sich eine neue Stadt? Ich treffe sehr viele Leute, führe viele Gespräche, lese alles, was ich über die Stadt lesen kann. Ich versuche, mir ein Bild von der Mentalität und den Eigenheiten einer Stadt zu machen, von der sozialen Struktur, von der psychosozialen Struktur. Die Erfahrung von Fremdheit bedeutet beispielsweise in Dresden etwas ganz anderes als in Düsseldorf. Ein dunkelhäutiger Mensch gehört in Dresden nicht zum Alltag der Stadt. Hier im Rhein-Ruhr- Raum hat der Umgang mit anderen Kulturen eine ganz andere Tradition. Dementsprechend selbstverständlich ist es, mit erst einmal Fremden zu leben. Jetzt entstehen neue Aufgaben und Konflikte. Die Kunst und die Kultur können vermitteln und helfen, nach vorne zu denken, auszuprobieren. Wir sind ein offenes, einladendes Haus. Es gehört allen. Das Junge Schauspiel hat ganz selbstverständlich ein sozial vielfältiges Publikum. An der Münsterstraße ist fast die gesamte Gesellschaft im Theater vertreten; das ist extrem angenehm und sehr richtig und kann ein gutes Beispiel für unsere gesamte Arbeit sein. Welche sind denn in Düsseldorf die zentralen Themen, die Sie künstlerisch umsetzen werden? 8 „Die Kunst und die Kultur können vermitteln und helfen, nach vorne zu denken, auszuprobieren. Wir sind ein offenes, einladendes Haus.“ Düsseldorf ist eine sehr westlich geprägte Stadt – mit allen Vor- und Nachteilen, die das hat. Man sieht in Düsseldorf besonders gut, wie unsere ökonomisch orientierte Gesellschaft funktioniert. Armut und Reichtum, Macht und Ohnmacht sind also Themen. Die Schere geht immer weiter auseinander. Die Frage ‚Wie verteilt sich der gesellschaftliche Reichtum?‘ wird meines Erachtens die zentrale Frage der kommenden Jahrzehnte sein. Auch die Frage ‚Was bedeutet in Zukunft gesellschaftliche Gerechtigkeit?‘ und ‚Wer lenkt die gesellschaftlichen Prozesse beziehungsweise die Geschichte?‘. Demokratie ist nicht mehr selbstverständlich. Viele Menschen haben zunehmend das Gefühl, nicht sie selber bestimmen ihre Biografie, sondern sie werden gelenkt. Wir möchten Foren schaffen, wo über derlei Themen gesprochen, gespielt und gehandelt wird. Wo man Konflikte austragen kann, ohne dass es blutige Folgen hat. Das braucht unsere Gesellschaft sehr. Sie starten mit „Gilgamesh“, einer Regiearbeit von Roger Vontobel, in die neue Spielzeit. Der Stoff ist 5000 Jahre alt. Warum haben Sie sich gerade dafür entschieden? Am Anfang war der Ort. Wir starten ja im Theaterzelt an der Kö. Ein Zelt ist rund und fordert die Gemeinsamkeit heraus. Kinder, Banker, Künstler, Lehrer, Intellektuelle und Vergnügungssüchtige sitzen auf Holzbänken nebeneinander, sehen auf die Manege oder Bühne und sehen sich gegenseitig. Es bedeutet also eine Öffnung, das fanden wir schon mal gut. Und es lässt nach dem Gemeinsamen, nach dem Anbeginn all unserer Existenz und Geschichte fragen. An dem Gilgamesh-Text hat uns auch fasziniert, dass er aus einem Kulturraum kommt, den wir im Moment extrem negativ assoziieren. Mesopotamien, Arabien, die Wiege der Kultur. In dem Text geht es um den Beginn der Menschheit, um das Verhältnis von Menschen und Göttern, um Verantwortung und Werte. Das erschien uns ein guter Stoff zu sein, gerade für den Start der Spielzeit. Auch die freie Gruppe Rimini Protokoll erarbeitet eine eigene Produktion fürs Schauspielhaus. Das Thema: Die Großbaustelle als Gesellschaftsmodell. Ist das Ihre Art von Galgenhumor? Natürlich steckt da zu einem Teil auch Aufarbeitung drin – und ein kleines Lächeln. Es wird in der Arbeit aber nicht konkret um die Großbaustelle Kö- Bogen 2 gehen, sondern allgemeiner um die Frage, wer bestimmt, wie die Städte aussehen, in denen wir leben. Wie die Mechanismen funktionieren. Das Ganze ist Teil eines Theatergroßprojektes, eine von vier Produktionen unter dem Thema „Staat 1-4“, die an vier unterschiedlichen Theatern entstehen und ausgetauscht werden.

I N T E R V I E W „Kunst ist Abenteuer, Erfindung, Risiko, lustvoller Versuch.“ Hausherr ohne Haus: Wilfried Schulz Foto: Thomas Rabsch Ist das eine Ironie, die man im Rathaus versteht? Hat sich Herr Geisel diesbezüglich schon gemeldet? Nein. Hat die Stadtpolitik eigentlich einen konkreten Auftrag an Sie ausgegeben? Ja, danach habe ich auch gefragt. Wir haben mit der Stadt und dem Land NRW die Ziele festgelegt: Dass das Haus ein lebendiger, kultureller Mittelpunkt der Stadt werden soll. Und eins der wichtigen Theater im deutschsprachigen Raum. Das ist der Auftrag. Es gilt also der Fußballgesang: Die Nummer eins am Rhein sind wir? Wer singt das? Das singt man zum Beispiel bei Fortuna Düsseldorf. Egal, wie die Situation dort gerade ist. Ich würde mich auch über drei Spitzenvereine und drei Spitzentheater am Rhein freuen. Dass man hohe Ansprüche an sich selbst hat und ganz nach vorne will, ist eh klar. Fortuna hat übrigens einen tollen neuen Chef bekommen. Robert Schäfer kenne ich aus Dresden. Wir haben mit den Fans von Dynamo gemeinsam ein Theaterprojekt gemacht. Mal schauen, was hier geht. Ganz anderes Thema: Bürgerbühne. Dort haben Düsseldorfer die Möglichkeit, selber Teil einer Produktion zu werden. Kann wirklich jeder mitwirken? Sagen wir es so: Die Bürgerbühne hat viele Türen und jeder wird eine Tür für sich finden. Natürlich wird eine Auswahl getroffen. Es entstehen ja aufwendige, künstlerisch durchaus anspruchsvolle Inszenierungen zu jeweils spezifischen Themen und Lebensbereichen. Es geht nicht in erster Linie um spielerische Begabung, sondern um die Erfahrung und Kompetenz – und Neugier und Offenheit. Es sollte ein Gewinn sein, dass man mit, wie Rimini Protokoll sagen würden, Experten des Alltags arbeitet und Themen verhandelt, die einen existenziell betreffen. Mit „Schlachtfelder der Schönheit“ planen wir zum Beispiel ein Projekt über Leute, die ihren Körper formen und modellieren lassen. Insgesamt wird es in der Spielzeit 2016/17 vier Bürgerbühnen-Inszenierungen geben. Am 10.9. startet die Spielzeit mit einem großen Fest und am 15.9. mit der ersten von zehn Premieren in schneller Folge. Wie fühlen Sie sich am Vorabend des 15.? Am Anfang ist die Spannung natürlich ziemlich groß. Weil man noch nicht das Vertrauen des Publikums hat. We try our best. Ich habe mal ein Buch über Christoph Schlingensief geschrieben. Der hat ja viel über das Scheitern in der Kunst gesprochen. Wenn ich zum Beispiel wüsste, was bei einer Inszenierung rauskommt, würde ich sie nicht starten. Weil wir uns zu Tode langweilen würden. Kunst ist Abenteuer, Erfindung, Risiko, lustvoller Versuch. Zu Kunst gehört die Spannung, das Risiko des Gelingens oder Scheiterns einfach immanent dazu. Würden Sie von sich sagen, dass Sie ein guter Teamplayer sind? Ich bin ein guter Entscheider und ein guter Teamplayer. Beides gehört zusammen. Ich glaube nicht, dass Theater von brüllenden, autoritären Menschen geleitet werden müssen. Die großen, guten Theater, die ich kenne, werden von sehr nachdenklichen Menschen geleitet, mit viel Verantwortungsgefühl. Ich mag es gerne, wenn viele Leute mitdenken und mitreden, und habe ein starkes, selbstbewusstes Team. schauspielhaus-duesseldorf.de 9

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