INTERVIEW Von der Unzählbarkeit der Sterne SeligrundumJan Plewka (2. v. r.)machenseitfast30Jahren Musik. Foto: Sven Sindt „Myriaden“ bedeutet „unzählbareMenge“. DieHamburger vonSelighaben für ihr achtes Album, dasam12.3. erschien, genaudiese altgriechische Bezeichnung als Titelgewählt. Bald stehtdas Quartett 30 Jahrezusammenauf der Bühne, auch wennfür einige Zeit pausiertwerdenmusste. Frontmannund Sänger Jan Plewka sprach AnfangMärzmit Christopher Filipecki über den Zusammenhalt vonKünstler:innenund mehr. Wiegehtesdir und deiner Band aktuell? Eigentlich sind wirprivilegiert.Als diePandemielosging,konnten wir ins Studio gehenund diePlatteohneAblenkung aufnehmen, weil Ablenkung garnicht möglich war.Und während desProduzierensdachten wir:„Hey, wirhaben Zeit!“.AlleTourenwurdenabgesagt, alsohattenwir dieIdee sämtlicheLiedernochmal liveaufzunehmen. Wirhaben so getan, alswürdenwir gerade auftreten,haben unsineinen Kreis gestellt undalles im anderenGewandeingespielt.Daraufhin haben wirviele Videosund Kurzfilmegedreht undnun machenwir Promo. Wirhaben viel zu tun, sind aber gleichzeitig vondem Corona-Zeugechterschöpft. Wirkommunizieren einmal dieWoche perVideotelefonie über WhatsApp.Das istirgendwie zermürbend, weil keiner weiß, wann es wiederlosgeht undwas dann passiert.Man fühltsichein wenigwie dasletzte Gliedder Kette. Unsere AlbensindunsereVisitenkarten undwir möchten dieden Leuten vorspielen.Geradedenkt manabereher, dass Fußballstadien früher aufmachenwerdenals ClubsoderFestivalgelände. Das strengtan. Wir spielen nununser erstes Streamingkonzert einenTag nach derVeröffentlichungder LP.Mal gucken,wie dassowird. Eher eine einsameSache wahrscheinlich,soohnePublikum… 26 Wasfür eine Form vonKonzert wird das denn?EineStudiosession? Wirsehnenuns so nach einerrichtigen Show.Man siehtunser Equipment, es gibtrichtigesLicht, wir positionierenuns so,als ob voruns Zuschauer stehen.Essollsosein, wieein richtigesKonzert,weildas ja dasist,was wir allevermissen. Wenndumal zurückschaustauf eure Bandgeschichte –zunächstgab es euch sechsJahre,dann folgte eine langePause,nun gibt es euch schon wieder zwölf JahreamStück. Wasmacht ihrimzweiten Durchlaufanders? Pause! Wir gönnen unsPausen voneinanderund ladenEnergie nach. Genaudas haben wir früher nichtgemacht undsinddamitganzschön gegen dieWandgefahren. Und wenn du malauf dieEntwicklung derdeutschen Musikszene schaust, wiehat sich dieseitAnfangder 90er gewandelt? Als wir angefangen haben,auf Deutschzusingen, wurdenwir ständiggefragt: „Sagtmal,warum singtihr denn aufDeutsch,das istdochüberhauptnicht en vogue!?“.Jetzt existierteigentlich dieWelt, diewir unsda-
INTERVIEW Foto: pixabay mals gewünschtund vorgestellthaben.Ein bunter,vielfältigerReigen an deutschsprachigerMusik, in demwir nunmittendrin sitzen. Redenwir mal übersAlbum!„Myriaden“ist einsehrschönes Wort.Wovon gibtesdeinerMeinung nach denn so unzählbarviel? Wiekamst du auf denTitel? Mirist dasWortamStrandgekommen.Ich lagnachtsrum,hab geschlafen undzwischenzeitlich in denSternenhimmel geguckt. Je längerdudorthin schaust, destomehrSternekommenauf dich zu.Das hattewas psychodelisches.Ich wollte dieseUnzählbarkeitder Sterne in einemWortzusammenfassenund bindann auf„Myriaden“gestoßen, wasauch „Unendlichkeit“bedeutet. Das istmystischund magisch zugleich. HatsichdennCorona-bedingt inhaltlich etwasamAlbum verändert? DieGrundinspiration istdie Lage derWeltund auch derKinder. In Zeiten von„Fridaysfor Future“,„Extinction Rebellion“ undstärker aufkommendemRassismus istesuns wichtig, dennachfolgenden Generationen –also auch unsereneigenen Kindern –keinenmaroden Planeten zu übergeben. Früher haben wir unsüberRock’n’Roll,Drogenund Mädchenunterhalten, jetztgehtesumErnährung, Atemtechnikenund Hochbeete,wer da dasschönstehat,und natürlichdie politische Lage.DaeseineSelig-Platte ist, isteseinerseitsein wenigProtest,andererseitsaberauch einLiebesbrief an dieSeligkeitder Menschheit, dieinaktuellen Zeiten wieCorona wirklich wichtigist.Und es istein Dankeschön an diePerle im All,alsoan denPlaneten, aufdem wir leben. Umsotrauriger,dassman diesenInhaltnun garnicht livepräsentieren kann,oder? Ichfinde,esist ganz gut vonuns gelöst, indemwir dassolange rauszögern.Eigentlich war dieVeröffentlichungschon fürletzten Herbstgeplant, wir haben dann aber dieganzenKurzfilme unddie Liveaufnahmenhinterhergeschoben. Wirhatten93Songideenfür dasAlbum,davon sind die besten 14 nundrauf –demnach haben wir aber noch vieleübrig,wovon wir einpaarvielleichtnochmal aufeiner EP raushauenwollen. Wir können alsonochviele weitereSachenaufnehmen,falls diePandemielänger geht. Isteinfachein langes Vorspiel,ein bisschen wieSlow-Sex. Wiewürdest du das Albummusikalisch skizzieren? Es beleuchtet,wie wir Menschenmiteinander umgehen. Manche Songs sind überraschend,esgibteinen Pop-Chansonund wasFunkigeszum Beispiel. DieVielfaltder Genresist mittlerweile derartig groß,dasswir uns davonhaben inspirieren lassen.EsgibtRetro-Soulund Grunge.Von vielem etwas, allerdingsüberraschendruhig, dashätte icherstgar nichtgedacht. DieAufnahmenwarensehrwild, aber am Ende istdie Scheibenun eher reif undbesinnlichgeworden. …und da istsogar einSong, der„Selig“ heißt! Ja!Das istder typische Selig-Sound. So fangen Seligebenwiederan. Seligkeit istein Zustanddes purenGlücks. Diesen Zustandkann manhervorrufen, wenn manmomentanimHierund Jetztist.Wennwir alsMusiker auf derBühnestehen, sind wir voll da.Dagibtesweder ZukunftnochVergangenheit, sondernnur diesen Moment.WenndieserFunkeüberspringt und dasPublikumdann auch im Hier undJetzt ist, istdas dieser selige Zustand. „Selig“ist also derAugenblick, wenn dieWeltden Augenblick erblickt.Einfachnicht immer nach vornerennendurch dieDiktaturder Raserei oder durch das Grämen der Vergangenheit. EineErlösungsfantasie, für diewir schon immerstehen. TrotzdemsindStücke wie„Spacetaxi“ oder „SüßerVogel“eherleichtund groovy.BenötigtesmehrLeichtigkeitinder gegenwärtigenZeit? Aufjeden Fall.Wennwir nichtpositiv bleiben,sindwir alleverloren. Wir müssendas Lichtsehen unddürfenuns nichtvon denSchattenauffressenlassen. Angstist derletzteRatgeber, denwir brauchen.Ideenkommennur durch Freiheit,Hoffnungund Zufriedenheit. Waswünschstdudir fürdie Band-Zukunft? Dieseneue Form vonMusikmachen, alsodassman für Streaming-Plattformen eher einzelne Tracks stattAlben veröffentlicht, würde ichgerne für unsnutzen.Einfachspontan einenSongaufnehmen undden direkt raushauen. AlsBandnochungebundenerarbeiten, mehr im Zeitgeschehen sein,alsovon dergegebenenInhaltsebenezur Jamsession. Wenn dann über einenbestimmten Zeitraum zwölfSongs da sind,kannman dasfür dieAlbumfreunde bündeln. Quasiein kommentarischerZeitverlauf, wieein rasenderReporter. Und waswünschstdudir vonder Kulturszene? Musikerinnen sind darangewöhnt,dassman malkeinGeld hat. Dasses malbergauf und-ab geht, dieseSchwingungenkennenwir alle. Dasist nichtsoneu. Womöglichist dasauch einGrund,warum wir unshinsichtlich deranherrschendenKrise nichtsovernetzen,dajederein eigenes Süppchenkocht.Wir sind eigentlich zu weit auseinander. Als vorein paar Jahrendiese faschistische Echo-Verleihungstattfand,hättensichschon vieleKünstlerinnen zusammentrommeln müssen, um dagegenanzugehen.Genau dasGleiche wäre jetzt gerade möglich.Esgibt keinen wirklichen „Klassensprecher“,stattdessen wirdgenreübergreifend viel zu viel gedisst.Solange es unsnochgut geht,ist daszwar schön, aber wenn wirgemeinsam malauf dieLeute aufmerksam machenkönnten, denenesvielschlechtergeht, wiebeispielsweise Obdachlosen–das wäre malwas.Aberich binkeinOrganisator.Ich habejedenfalls dasGefühl, dass diedeutscheSzene schonmalbesserzusammengehalten hat. 27
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