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Oktober 2017 - coolibri Düsseldorf und Wuppertal

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THEMA Eigentlich

THEMA Eigentlich Essstörungen sind ein großes Thema. Wie Depressionen, wie Burnout, wie alle Abhängigkeiten. Und trotzdem wird wenig darüber gesprochen. Es ist ein Tabu. So wie alles, das Schwächen aufzeigt und verletzlich macht. Tossia Corman hat mit einer Betroffenen über Bulimie, Vorurteile und den Alltag mit der Krankheit gesprochen. „Eigentlich weiß ich, was gut für mich ist“, sagt Tanja., deren Nachname nicht gennant werden soll. Sie hat Bulimie, Ess-Brech-Sucht, neben Magersucht und Fresssucht eine der drei am häufigsten diagnostizierten Essstörungen. „Von einer Essstörung spricht man immer dann, wenn jemand sein Essverhalten übermäßig stark einschränkt, übermäßig kontrolliert oder wiederum die Kontrolle über das Essverhalten verliert“, erklärt Thea Hermann von der Frauen-Suchtberatungsstelle Bertha F. in Düsseldorf. Bertha F. e.V. arbeitet seit über 20 Jahren mit suchtkranken Mädchen und Frauen und deren Angehörigen. „Es gibt verschiedene Formen von Essstörungen und man nimmt an, dass verschiedene Ursachen zur Entstehung einer Essstörung führen. Die persönliche Entwicklung, gesellschaftliche Einflüsse und biologische und körperliche Einflüsse gehören dazu.“ Dünn sein, fit sein, schön sein: Diese drei Attribute sind die, die gerade Frauen als die wichtigsten zu erreichenden Ziele eingeimpft werden, durch Werbung, mediale Vorbilder oder die sozialen Medien. Thea Hermann: „Artikel über Essverhalten, Ernährung, Diäten und Essstörungen finden sich fast jede Woche in Frauenzeitschriften und immer öfter in anderen Medien.“ Ausgelöst und verbreitet werde dadurch Körperscham bei vielen Frauen. „Eine Magersucht, die häufig zu Bulimie führt, tritt meist im Jugendalter, insbesondere beim weiblichen Geschlecht, auf und hält im Durchschnitt drei bis vier Jahre an. Insgesamt bekommen ungefähr zwei Prozent aller Frauen im Verlauf ihres Lebens diese Essstörung“ erklärt Prof. Johannes Hebebrand von der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters im LVR-Klinikum Essen. Genaue Zahlen zu nennen sei schwer, da die Dunkelziffer enorm hoch sei, berichtet das Gesundheitsamt Düsseldorf auf Anfrage. Auffällig sei aber ein Anstieg der Betroffenen, gerade bei Teenagern. Oft haben Essstörungen erhebliche gesundheitliche und psychische Schäden zur Folge. Hebebrand: „Hierzu zählen Erniedrigung von Puls, Blutdruck und Körpertemperatur und ein Ausbleiben der Regelblutung.“ Spätfolgen Auch bei Tanja ging es früh los: „Ich war 13, hatte meinen Babyspeck verloren und wollte dünn bleiben. Ganz einfach.“ Ihre Lösung: Sich den Finger in den Hals stecken. Nach jeder Mahlzeit. Schnell war sie gefangen in der Essstörung. Es folgten Therapien, Klinikaufenthalte, Versuche, selberWege aus der Bulimie zu finden. „Eigentlich hatte ich eine Zeit lang das Gefühl, alles wieder ganz gut im Griff zu haben.“ Es fällt auf, dass Tanja diesen Begriff oft benuzt - Eigentlich. „Das ist zu einem sehr häufig auftauchenden 6 „Eigentlich weiß ich, was gut für mich ist“ Wort in meinem Sprachgebrauch geworden“, erzählt die junge Frau. „Eigentlich bin ich doch glücklich. Ich habe eine tolle Familie, einen großen, fröhlichen Freundeskreis, einen Job. Und trotzdem gibt es immer wieder diese Momente, in denen ich die Kontrolle verliere, in denen ich so viel esse, bis es nicht mehr geht.“ Nach fast 20 Jahren mit Bulimie merkt die 32- Jährige die Spätfolgen: „Mein Immunsystem spielt verrückt, ich bin oft angeschlagen. Fast noch schlimmer ist, dass ich keine Mahlzeit zu mir nehmen kann, ohne direkt darüber nachzudenken, was ich gerade esse, ob ich mir das erlaube oder doch wieder aufs Klo renne.“ Hinzu kommt die Scham, das Gefühl von Versagen, wenn es doch wieder passiert. Für Tanja geht es inzwischen nicht mehr nur ums Schlankwerden und -bleiben: „Das ist mein Stress- Ventil.“ Das Erbrechen gehört selbstverständlich zum Alltag, gerade in emotional stressigen Phasen. „Wenn ich überfordert bin, fange ich an zu essen. Ich bekomme fast nicht mit, wieviel ich zu mir nehme. Und wenn ich so voll bin, dass es weh tut, kotze ich alles wieder aus.“ Sie berichtet, dass das vor allem nach längeren Phasen, in denen sie es geschafft hat, die Bulimie wenigstens für eine Zeit in den Griff zu bekommen, ein besonders schlimmes Erlebnis sei. „Jedes mal schwöre ich mir, ab morgen mach ich alles anders.“ Wenn es dann wieder nicht klappt, das Essen in sich zu behalten, wisse sie oft nicht weiter: „Da kommt dann wieder das Eigentlich - eigentlich sollte ich doch aufhören, früh genug die Reißleine ziehen.“ Eine dunkle Seite Eigentlich weiß die junge Frau auch, dass es nicht gesund ist, sich mehrere Male am Tag zu erbrechen. Es nicht zu tun, ist trotzdem fast unmöglich für sie. „Ich habe dann das Gefühl, ich erleichtere mich nicht nur um das Essen in mir, sondern um alle Sorgen und Nöte, die mich gerade quälen.“ Professor Heberand dazu: „Betroffene ziehen sich sozial zurück, sie beschäftigen sich gedanklich über weite Strecken des Tages mit Essen, ihrem Gewicht und ihrer Körperfigur.“ Auch Tanja kennt diese Phasen: „Ich kann mich dann nicht ertragen, möchte am liebsten mein Spiegelbild zerschmettern“. Eine weitere Nebenwirkung der Krankheit: Ein verzerrtes Körperbild. Das reale Erscheinungsbild stimmt nicht mit dem überein, wie Betroffene sich selbst sehen. Auch Tanja kennt das. Macht dann exzessiv Sport, ernährt sich gesund. Bis der nächste Anfall kommt. Das Tückische: Das Umfeld bekommt oft nicht mit, was sich im Inneren der Betroffenen abspielt. Auch, weil das Gewicht meist im Normalbereich liegt, ist es mitunter schwer, die Essstörung zu erkennen: „Ich höre oft Sätze wie: Du bist doch total normal, siehst fit aus. Du kannst doch gar nicht essgestört

THEMA Foto: Lukas Vering „Du kannst doch gar nicht essgestört sein“ sein.“ Auch, dass sie ihren 20ern bereits entwachsen ist, trägt dazu bei, dass sie sich in Gesprächen rechtfertigen muss, noch immer Bulimie zu haben. „Als sei das vorbei, sobald die Pubertät überstanden ist. So ein Quatsch.“ Auch die Experten der Beratungsstellen bestätigen das: Laut einer Untersuchung von 2016 liegt das Durchschnittsalter bei Bulimiekranken bei 35 Jahren. Vorurteile abbauen „Ich weiß, dass meine Erfahrungen und Gedanken persönlich sind und ich nur für mich sprechen kann“, sagt Tanja. Glück hat sie, viel Unterstützung zu bekommen, innerhalb der Familie und von eingeweihten Freunden. „Mir war klar, dass ich alleine nicht da rauskomme.“ In ihren Therapien hat sie gelernt, anzunehmen, dassdie Essstörung eine Krankheit ist. „Das war vielleicht der härteste Part, zu akzeptieren, dass das eine Sache ist, die mich mein Leben lang begleitet. So wie jede Sucht.“ Selbst wenn sie „trocken“ ist - die Bulimie bleibt ihr steter Begleiter. Tanja hat gelernt, damit umzugehen: „Das ist nicht alles, was mich definiert“ sagt sie. „Ich kann essgestört sein und trotzdem glücklich. Trotzdem Leistung bringen. Trotzdem verliebt sein. Trotzdem mein Leben im Griff haben. Das ist nicht immer einfach, aber für mich der beste Weg.“ Sehr offen geht sie damit um. Um Vorurteile und Berührungsängste abzubauen. Auch für andere Betroffene. „Je mehr man darüber spricht, desto mehr Leute öffnen sich auch“, sagt sie. Trotzdem ist professionelle Hilfe unabdingbar. Thea Hermann rät: „Eine Essstörung ist eine ernsthafte Erkrankung. Sie kann und sollte behandelt werden. Je frühzeitiger die Behandlung beginnt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Behandlung.“ Wichtige Adressen: Bertha F., Beratung und Therapie abhängiger Frauen e. V., Adresse: Höhenstraße 25, 40227 Düsseldorf Telefon: 0211 44 16 29 ProMädchen Mädchenhaus Düsseldorf e.V. Adresse: Corneliusstraße 59, 40215 Düsseldorf Telefon: 0211 487675 Kindertagesklinik für Psychosomatik im EVK Adresse: Fürstenwall 91, 40217 Düsseldorf Telefon: 0211 91 93 722 Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, LVR-Klinikum Adresse: Wickenburgstr. 21, 45134 Essen Telefon: 0201 87 07 0 Gesundheitsamt Düsseldorf Fachstelle für Ernährungsberatung Adresse: Kölner Straße 180 ,40227 Düsseldorf Telefon: 0211 89 92 650 7

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