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Mai 2016 - coolibri Ruhrgebiet

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I N T E R V I E W O h n

I N T E R V I E W O h n e A n g s t v o r f a l s c h e n G e d a n k e n Serdar Somuncu ist der Hassprediger schlechthin – so nehmen ihn die meisten zumindest wahr. Doch der Schauspieler kann viel mehr als poltern und schimpfen. Irmine Estermann sprach mit ihm über Bühnenerfahrungen, Figurenwandel und die Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Auch wenn es lange her ist: Warum geht man trotz Morddrohungen mit kugelsicherer Weste auf die Bühne und liest aus „Mein Kampf“? Das ist kein gleichbleibender Grund. Am Anfang ist das vielleicht die Neugier darauf, was passiert, wenn man sich auf die Bühne setzt und aus „Mein Kampf“ liest. Mit jeder Erfahrung verändert sich dann die Motivation. Wenn zum Beispiel jemand Ihnen droht, Sie umzubringen, wenn Sie aus „Mein Kampf“ lesen, dann machen Sie es aus Trotz. Und wenn Sie merken, dass Leute plötzlich wieder Texte sprechen, die dem sehr ähnlich sind, was Sie aus „Mein Kampf“ kennen, dann lohnt es sich, da auch einen Bezug herzustellen und zu sagen ‚Ihr zitiert da Dinge, die vielleicht einen ganz anderen Ursprung haben als ihr denkt‘. Und heute lese ich nicht mehr aus „Mein Kampf“, weil es für mich keinen Grund mehr gibt. Was halten Sie von der kritischen Edition, die nun erschienen ist? Ich halte nicht viel davon, weil ich finde, dass schon alleine die Tatsache, dass ein Buch so kommentiert werden muss, das Buch aufwertet. Der, der das in den Händen hält, denkt, das muss ja verdammt gefährlich sein, dass sich so viele Wissenschaftler Tausende Seiten lang so viel Mühe gegeben haben, mir zu erklären, wie ich es nun bloß nicht verstehen darf. Hatten Sie nach der Lesetour überlegt, das Thema zu wechseln? Ich habe immer schon auch andere Sachen gemacht, das ist nur nicht in der Öffentlichkeit so wahrgenommen worden. Ich habe seit meinem 14. Lebensjahr als Schauspieler gearbeitet und angefangen von den traditionellen Stoffen bis hin zu eigen entwickelten Dingen sehr viel gemacht, aber es ist wahrscheinlich eben nicht spektakulär genug gewesen. Für mich war das genauso wichtig wie die Auseinandersetzung mit Rechtsradikalismus. Das war immer nur eines von vielen Themen. Sie wollten Ihre Bühnenfigur danach weicher anlegen. Ist das in H2 Universe gelungen? Wie ist der auferstandene Hassias? Er ist tatsächlich viel weicher, viel nachdenklicher, aber auch viel theoretischer und viel anstrengender. Das war das, wo ich hin wollte. Und es ist aus meiner Sicht auch gelungen, diese Figur, die zum Schluss sehr reduziert betrachtet wurde auf Provokation und auf Hass nun wieder facettenreicher zu machen. Es war nie so gedacht, dass ich den Leuten Anlass geben wollte, die Sau rauszulassen. Deshalb musste ich etwas zurückrudern und sagen, ,Ok, es ist ein Aspekt, der euch große Freude bereitet, dass ich über Minderheiten herziehe, aber ihr könnt mich nicht als Vorwand dazu 8 „Es ist zu früh zu bewerten, was die AfD ist.“ benutzen, eure eigene Intoleranz zu kaschieren.‘ Ich musste klarer Position beziehen, denn die Gefahr missverstanden werden zu können, wurde von Mal zu Mal größer. Das wollte ich mir nicht vorwerfen lassen. Eine Rolle muss immer auch eine Eindeutigkeit behalten. Ich denke, in der neuen Version des Hassias ist das gelungen. Das Programm besteht zu 70 Prozent aus ernsten Aspekten und nur noch zehn, zwanzig Prozent aus Albernheiten. Welche aktuellen Themen behandeln Sie in dem Programm? Die Show ist gerade im Wandel. Sie hatte lange Zeit den großen Themenkomplex Rechtsradikalismus und Integration. Durch die Flüchtlingsfrage hat sich einiges verlagert. Auch ich habe mich verändert. Ich würde heute nicht mehr so klar sagen können, welcher politischen Richtung ich mich zuordne. Das war vor zehn Jahren anders. Da war ich eindeutig links und ich habe gedacht, ich würde nie einen konservativen Gedanken in mir tragen können, schon gar nicht auf der Bühne. Mittlerweile bin ich offener geworden. Ich habe angefangen, neue Denkwege zu gehen, ohne Angst zu haben vor falschen Zuordnungen. Die Flüchtlingsfrage ist ein Indikator für diese neue Denkweise. Zum Beispiel die Frage danach, ob wir richtig damit umgegangen sind, in dem wir Tür und Tor geöffnet haben und gesagt haben ‚Wir schaffen das‘. Haben wir darüber nachgedacht, wie wir das schaffen oder welche Folgen das haben wird? Und wie gehen wir damit um, dass wir den Extremen die Argumente für ihre absurden Ängste geliefert haben? Wenn wir jetzt keine bessere Regelung für eine kontrollierte Zuwanderung finden, werden wir schon bald ein großes Problem haben. Wird Rechts dank der AfD nun salonfähig? Ich glaube, es ist zu früh zu bewerten, was die AfD ist und wo sie hin will. Man kann das erst mal nur analytisch betrachten. Wenn man sich das Programm durchliest, stellt man fest, dass es voller Widersprüche ist. Zum Beispiel, dass die AfD für die Ehe als Schutz der Familien plädiert und gleichzeitig die Vorsitzende Frauke Petry und der Vorsitzende des Landesverbandes NRW in wilder Ehe leben und acht Kinder mit in diese offene Beziehung bringen. Man kann die Menschen aber auch einfach fragen: ,Wollt ihr dieses Modell der AfD, in dem Deutschland aus Europa ausschert, obwohl das Deutschland, in dem wir jetzt leben, nur existiert, weil es sich zu einem gemeinsamen europäischen Gedanken bekannt hat? Aber – und auch das ist eine Überzeugung, die sich in mir in den letzten Monaten entwickelt hat: Man kann das nur argumentativ machen. Man

muss mit der AfD reden, man braucht weder zu polemisieren noch muss man sie stigmatisieren, denn das macht sie nur noch stärker. Was halten Sie vom Umgang der Medien mit diesem Thema? Ich finde ihn zum Teil tendenziös. Und ich finde, dass der Vorwurf der Lügenpresse manchmal sogar begründet ist, denn es gibt tatsächlich eine befangene Presse in Deutschland. Ich finde den generellen Vorwurf, die Presse sei unterwandert und gesteuert von unsichtbaren Mächten aber übertrieben und paranoid. Diese Schutzbehauptung soll wohl eher das eigene Handeln kaschieren. Die AfD ist zum Beispiel sehr stark im Internet und sobald man etwas gegen sie schreibt, kommen Watch-Blogs der AfD, die einen sofort anfallen. Und dann kommen die Vorwürfe, die immer kommen: man sei staatlich indoktriniert, man sei fremdgesteuert. Und da verläuft die Grenze zwischen pathologisch und pathetisch oft übergangslos. So! Muncu! heißt Ihre eigene neue Talkshow bei n-tv. Sehen Sie dort auch Verbesserungsbedarf? Oh ja, da gibt es viel Verbesserungsbedarf, weil wir ja sozusagen am lebenden Zuschauer üben. Aber das war auch meine Absicht. Ich bin kein Freund von Sendungen, die vorgefertigte Formate kopieren oder selbst vorgefertigt sind. Das große Glück ist, dass ich mir Friedrich Küppersbusch einen Partner habe, der diese Sendung mit viel Ausdauer und sehr liebevoll mit mir zusammen plant, und mit n-tv einen Sender, der das erst mal ausprobiert. Die ersten Folgen waren vielleicht noch ein bisschen wirr und ich musste mich mit meiner Rolle als Moderator zurechtfinden. Ich finde aber, dass es besser wird und dass wir unserem Ziel, der Dekonstruktion einer Talkshow, immer näher kommen. Sie haben etliche Theaterrollen gespielt. Wie sehr wirken sich diese auf Ihre Bühnenfiguren aus? Sehr viel. Tatsächlich bilden die Rollen, die ich gespielt habe, sedimentartig die Grundlage, auf der ich heute auf der Bühne stehe. Ich kann in jeder Figur, die ich heute auf der Bühne spiele, erkennen, welche Elemente schon gearbeiteter Figuren darin enthalten sind. Es gibt ein Stück aus dem Anfang dieser Hassprediger-Episode, das war der „Theatermacher“ von Thomas Bernhard, der in seinen Stücken immer wieder das Element ,Hass auf die Gesellschaft‘ verarbeitet hat. Es gibt aber auch viele andere wie Kafkas Affen Rotpeter, den ich lange Jahre gespielt habe, ,Der Bericht für eine Akademie‘, bei dem auch dieses Element der Außenseiterbiografie eine Rolle gespielt hat. Und so hat jede Rolle und jedes Stück, das ich inszeniert habe, Spuren hinterlassen, in dem, was ich heute auf der Bühne mache. Ich könnte auch nicht auf der Bühne stehen, ohne einen Großteil des Fundaments der Sicherheit, der Souveränität, aus der heraus ich denke und somit auf der Bühne agiere. Die sind in diesen 30 Jahren gewachsen. Was machen Sie mit dem niederländischen Kabarettisten Theo Maassen? Das wissen wir beide noch nicht. Für mich ist das nicht so ein Problem, weil ich ja jeden Abend improvisiere. Theo spielt etwas festere Texte, ist aber in der Lage, frei zu agieren. Es ist eine Zusammenarbeit, auf die ich mich sehr freue. Sie ist entstanden, weil ich in Amsterdam gespielt habe Serdar Somuncu steht seit 30 Jahren auf Theaterbühnen. „Unerträglich, was Menschen sich herausnehmen in der Verborgenheit des Internets.“ Termine: H2 Universe 5.–7.5. E-Werk, Köln; 25.5. Kö-Pi-Arena Oberhausen Serdar Somuncu & Theo Maassen: 13.5. Savoy Theater, Düsseldorf und dort Theo kennengelernt habe. Wir haben Vieles, das uns verbindet. Ich habe zum Teil in Holland studiert und Theo agiert zum Teil im selben Themenbereich wie ich und ist in vielen Dingen auf einem ähnlichen Weg. Da lag es nahe, dass wir uns zusammentun und gemeinsam auf die Bühne gehen. Holländischer Humor ist ein bisschen subtiler als deutscher. Und das auf der Bühne zu verknüpfen, ist ein tolles Experiment. Wie gehen Sie mit Hasskommentaren um? Ich habe mir das Prinzip angewöhnt, dass ich weder Hass- noch positive Kommentare kommentiere. Ich finde, es ist mittlerweile inflationär, sich zu Dingen zu äußern und für mich persönlich ist es zuweilen auch unerträglich, was Menschen sich herausnehmen in der Verborgenheit des Internets, dass ich es als falsch empfinde, das durch meinen Kommentar noch aufzuwerten. Ich habe aus meiner Theaterzeit gelernt, man geht auch nach der Vorstellung nicht ins Foyer und fragt die Zuschauer ‚wie war’s denn?‘ Man versucht sie nicht zu überzeugen und ihnen zu erklären, wie man es gemeint hat, sondern jeder darf seine Meinung behalten, ich muss sie nicht korrigieren. Foto: Michael Palm 9

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