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Januar 2016 - coolibri Düsseldorf /Wuppertal

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K U R Z G E S C H I C H

K U R Z G E S C H I C H T E S e n s o r t e c h n i k Ich fahre auf der A40 Richtung Dortmund. Wie immer fällt es mir schwer, die Autobahn nicht als eine Metapher zu missbrauchen, während ich über mein Leben nachdenke: „Wenn einem das Vorankommen derart leicht gemacht wird, fällt einem das Umkehren umso schwerer.“ So was halt und anderer emotionaler Quatsch... Dass ich über mein Leben nachdenke, ist der Tatsache geschuldet, dass ich gerade von einer Hochzeit komme. Das ist zunächst einmal nichts Ungewöhnliches, lädt aber zur Reflexion der eigenen Lebenslage ein. Ich halte nicht viel von Romantik und erst recht nicht von institutionalisierter Liebe. Tatsächlich erschließt sich mir nicht einmal der Fakt, dass Brautpaare sich offenbar sicher sind, dass ihre Gäste gerne und vor allem freiwillig nicht nur ein ganzes Wochenende, sondern auch eine beachtliche Geldsumme als Zugabe zur romantischen Hochzeitsreise nach Asien opfern, um nicht nur Zeuge, sondern auch aktiver Teil eines unvergesslichen Ereignisses werden zu dürfen. In Wahrheit freut sich niemand über eine solche Einladung und ich denke, ich tue mir und meinen Freunden gut daran, sie niemals in eine solch missliche Lage bringen zu wollen. Und dennoch beschleicht mich das Gefühl einer gewissen Unsicherheit, denn es scheint mir doch eher ungewöhnlich, in einer fast dreißig Köpfe zählenden Familie der einzige Single gewesen zu sein. In eine sowohl von Scheidungen als auch krankheits-, unfall- und altersbedingten Sterbefällen verschonte Familie hineingeboren zu werden, ist schon fast eine statistische Unmöglichkeit. Mein einziger Trost ist meine Cousine Britta. Sie ist im sechsten Monat schwanger. Das bedeutet, dass ich in drei Monaten endgültig nicht mehr der einzige Mensch in meiner Familie sein werde, der nicht in einer festen Partnerschaft liiert ist. Vielleicht wäre so eine Hochzeit aber auch gar nicht schlecht. Das oder irgendeine andere Form von erwachsener Verbindlichkeit. Vater werden, möglicherweise. Oder plötzlich an einer schlimmen Krankheit leiden. Irgendetwas, das einen ein Level weiterbringt. Eben noch Sohn, jetzt schon Vater. Gestern noch orientierungslos, heute schon Krebs. Es ist schon verrückt, wie strukturabhängig ich geworden bin, und ich merke das nirgendwo so sehr, wie in der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Herkunft. Da muss man schon mit mehr kommen, als mit einem neuen befristeten Zeitvertrag oder mit diesem oder jenem kreativen Projekt. Denn ohne, dass die Familie sich darüber bewusst ist, wissen sie, dass all dies gar keinen wirklichen Fortschritt darstellt. Die wirklich wichtigen Dinge, die Dinge, die dich verändern und dich endgültig zu einem Teil des Erwachsenenkollektivs machen, auf die hast du meistens gar keinen Einfluss. Es fühlt sich seltsam an, auf der Autobahn zwischen Bochum und Dortmund über so etwas nachzudenken. Welche Erkenntnis über das Leben soll einem hier schon kommen, den Bauch noch voll mit Hochzeitstorte? Eigentlich mag ich die Tatsache, dass mein Leben unspektakulär ist. Dass es keine Wendepunkte gibt. Es gibt rein gar nichts zu erzählen. Vielleicht ist aber genau das die Geschichte, um die es hier geht. Da ist kein unsichtbares Grauen, das in den dunklen Tiefen meiner Seele wuchert. Da ist kein ätzendes Geschwür, das mich zerfrisst. Da ist keine Trauer und auch keine Wut. Da ist voraussichtlich ein wenig Zukunft und mit Sicherheit ein ganzer Haufen Vergangenheit. Aber damit kann ich umgehen, denn es ist eine bequeme Vergangenheit. 38 Rainer Holl ist Autor und Poetry Slammer aus Dortmund. Seit 2009 tritt er regelmäßig bei Poetry Slams und Lesebühnen auf. 2010 gewann er den Dortmunder LesArt. Preis für junge Literatur und konnte sich 2015 für die deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam qualifizieren. Er arbeitet unter anderem für den LUUPS Verlag, für die Slam Agentur WortLautRuhr und als Workshopleiter für kreatives Schreiben und praktische Kulturarbeit.Ab und zu schreibt er auch Texte über sich selbst in der dritten Person Singular. Im Grunde genommen ist alles für mich Ding. Irgendwo muss man nun mal leben, etwas muss getan werden und manchmal sind da wohl auch Menschen. Und manchmal bin da auch ich. Ich bin dann einfach da. Genauso wie die Dinge und die Menschen. Und ich fühle mich platziert und in Szene gesetzt. Und dann gilt es, Verbindungen aufzubauen zu den Dingen und den Menschen, sich zu vernetzen. Und es geht darum, Meinungen zu haben und Ansichten und Einfälle. Es geht darum, den Kreislauf zu schließen und das System am Laufen zu halten. Schwierig wird es, wenn man sich fragt, wie man denn bitteschön genau hierher gekommen ist und warum genau man das tut, was eben gerade zu tun ist. Und das ist nun mal keine Geschichte der großen Wendepunkte. Was sich anfühlt wie eine Entwicklung, ist letztlich nichts weiter als ein rasender Stillstand und ein nicht gehaltenes Versprechen. Jede Entscheidung ist nur eine weitere Drehtür. Und ich trete auf der Stelle, irgendwo zwischen drinnen und draußen, und jeder Mensch, der mir begegnet, scheint in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Aber wir bewegen uns um den exakt gleichen Mittelpunkt, im exakt gleichen Radius, und am Ende sind wir nicht weiter als zu Beginn unserer Reise. Das ist so eine Geschichte, die man nicht erzählen kann. Das ist so ein Roadmovie, an dessen Ende man nicht schlauer ist als am Anfang.

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