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Dezember 2020/ Januar 2021

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INTERVIEW Wir

INTERVIEW Wir Punk-Brothers 40 Jahreund kein bisschenleise:Die Ärzte. JanVetter aliasFarin Urlaub (56),Dirk Felsenheimer alias Bela B(57)und Rodalias Rodrigo González (52) kommen trotzeines für Punk-RockerbiblischenAlterseher wie20-jährige Heißsporne daher.Mit dem lauten Comeback-Werk„Hell“willsich dasTrionachseiner Fast-Auflösung nichtneu erfinden. Im Gespräch mitOlafNeumann schwelgt man lieber in Albernheiten, Gesellschaftskritik und Ironie. HatesSpaßgemacht,den Oi-Punksong„Alle aufBrille“ zu schreiben? Felsenheimer: Ichhatte einentierischen Spaß dabei. DerSongist einBeleg dafür,was derEinzelneinder Band alles anstellt, um dieanderen beiden zumLachenzubringen. Oi-Musik isteineArt Streetpunk mitgegrölten Fussballchören,wie siezum Teil auch dieToten Hosenzelebrieren. FarinUrlaub: Aber dieHosen singen ja noch Töne,die mankennt! Felsenheimer: EinabsurderSongüberHooligans unddarüber,wie Gewalt entsteht.Und dass siesichgegeneinen selbst richtenkann.Der Text ging aus voneinem Albumtitelvorschlagaus dem1990erJahren, denwir nie verwendethaben.Das Introist original vonmeinemDemo. „VielWut,wenig Liebe“ –war das IhrLeben alsjunger Mann? Felsenheimer: Wütendwar ichschon,aberich war nieTeileiner Gruppe, dieauf Leutelosgegangen ist. Einmal haben wir zu dritteinen Teddyboy verprügelt, wasmir später sehr leid tat. DerTeddyboywurde dann ein Freund vonmir.Alsogingesmir damals primär auch um Liebe, denkeich. Welches Problemgab es zwischen Punksund Teddyboys? Felsenheimer: Es warenzweigegensätzliche Jugendbewegungen. Die Teddyboyswaren aus Sichtder Punks Spießer, weil siealles gutfanden, wasunseren Großeltern gefiel.Sie trugen immersaubereKlamotten.Auch Punksachtetensehrauf ihr Styling, aber siesahen so aus,als kämen sie gerade aus derGosse.Als ich1979 denFilm „Quadrophenia“ über zwei verfeindete Jugendbewegungenaus denSechzigerngesehen hatte, gabmir dasden Impuls,Punk zu werden.Zueiner Gruppe zu gehören, fühltsichbesseran, wenn es Leute gibt,die gegendichsind. Natürlich war dasalbern, undich hattemichrelativ schnellbei einemThe- Damned-Konzert miteinem Teddyboy angefreundet. Er machte mich mitder Musikvon EddieCochranund BuddyHolly bekannt. Beidesollten einengroßenEinfluss aufDie Ärzteausüben. Diemeisten derSongs aufdem Albumstammen vonFarin Urlaub. WiehabenSie sich gegen die starke Konkurrenz in derBanddurchgesetzt? Urlaub: IchhabeeineTaktik,die Donald Trumps Ex-Berater Steve Bannon empfohlenhatte:Flutealles mitScheiße! Weil dieanderen sich durchall meineDemos hören mussten,hattensie am Ende garkeine Lust mehr, mirihre eigenen Songsvorzuspielen. Wiedemokratischist die Band DieÄrzte? Felsenheimer: Alswir wieder zusammengefundenund unsfür eine Clubtour entschiedenhatten, spürtenwir,dassesimStudio gut läuftmit uns. WährenddieserganzenZeitwarenRod undich in derWarteschleife,während derArsch dieganzenSongs geschrieben hat. Janmeintezuuns:„Ja, ichweißnicht.Nur,wennihr auch wirklich wolltund dasMaterialgut ist“. Und als wir unsdann entschiedenhatten, insStudio zu gehen, eröffnete er uns, dass er bereitszwanzig Stücke geschrieben hatte. 30 „Dalegteerseine Jacke beiseite undginggeradezu würdevoll ans Mikrofon.“ Wieschlimm wareigentlich dieBandkrise? González: Wirhattenbis 2013 eigentlich alles erledigt,was zu erledigen war. Unddann haben wir diePausentastegedrücktund nichtmehrentsperrt.Esbedeutete aber nichtdas Ende derBand, sondernwir brauchten eine Auszeit. Felsenheimer: Wirwarennicht wirklichzufrieden mitdem damals aktuellenAlbum undder Tour.Wir haben unsabernicht gehasst, sondern Anteil genommen an denjeweiligenAktivitäten deranderen.Ich weiß vonBands, derenMitgliedernicht im selben Hotelwohnenkönnen undsichauf der Bühnenicht angucken.Und trotzdem funktionieren sieweiter, weil sieauf dieseWeise ihrGeld verdienen. So waresbei unsnicht malinden schlechtestenMomenten. Urlaub: Wasbei unsals „esläuft nichtgut“ gilt, giltbei anderenBands als „ihr versteht euchjaimmer noch“. WirhattentrotzdemnochSpaßzusammen, aber es war nichtsowie jetzt. Washaben Siezwischen2013und 2017 gemacht? Urlaub: Mich extrem zurückgezogen.Ich hattedann noch eine Rundemit meinem Racing Team gedreht –mit demHintergedanken,dassich nicht so aufhörenwill,wie ichdie letztenÄrzte-Konzerte2013empfundenhatte. Aber ichhabefastallemeine Gitarrenverkauft. Wiekommtman zu solcheiner endgültigenEntscheidung? Urlaub: Es gibt noch ziemlich vieleandereSachen, mitdenen ichjetzt endlichangefangenhabe. Auch binich malaus Brandenburgrausgekommen.Total spannend!Es hattesichfür mich aber nichtals endgültigen Bruch mitder Musikangefühlt,weilwir so lange so viel gemacht hatten.Wir haben wirklich alles ausgekostetund supervielErfolgund Zuspruch gehabt. Alswir vorzweiJahrenwiederInterviewsgaben,hatte Roddas Gefühl, dass wirnocheinePlatte in unstragen. AusgerechnetRod,der sonst nieetwas Positivessagt! Bela hatuns dann zu seinem Auftritt beieinem Anti-NazifestivalinJamel eingeladen. Aufder Hin- undRückfahrt unterhieltenRod undich unsintensivüberdie Beatles. Da habeich gemerkt, dass diebeiden fürmichwie Punk-Brothers sind. HabenSie sich dann Ihre Gitarrenwiederzurückgekauft? Urlaub: Nein, dieHaupt-Live-Gitarre hatteich noch. Sieist aufder Platte zu hören. Felsenheimer: Alswir drei in Jamel„SchreinachLiebe“spielten, konnte manuns garnicht hören, weil dasPublikum so ausgerastet ist. Zumindest um eine Sachemussten wir unskeine Sorgen machen: nämlich um unsere Beliebtheit. Alswir unsdann dazu entschieden, diesePlattezumachen, warein Riesenenthusiasmus da. „Wichsen istdie besteMedizin“ heißtesindem Song „Ein Lied fürjetzt“ zurCovid-19-Pandemie. Lautet so IhreVerschwörungstheorie?

2013 habenDie Ärztedie Pausentastegedrückt.Aberjeder derdreiMusiker hatteseine Gründe,dochwiedergemeinsam einAlbum aufzunehmen. Foto: Jörg Steinmetz/Die Ärzte Urlaub: Wenn du jung bist –oderauch 56 -und gelangweiltalleine zu Hause sitzt, wasmachstdudann? Du machstdie Schuhe sauber! Felsenheimer: „Ein Lied fürjetzt“ war dieser Zeit undSituationgeschuldet. Wirwollten dieStudioarbeitein bisschen nach hinten verschieben, biswir wieder klarersehen.Inder Zwischenzeit habeich mitJan telefoniert, aufgelegt undeineStrophe undeinen Refrain komponiert.Das habeich aufgenommen undanihn geschickt. Zehn Minutenspäterbekam ichvon ihm diezweiteStrophe zugemailt. Wichsenund Musikbezieht sich aufdie Feststellung, dass dererfolgreiche italienischePornoseitenbetreiberPornhubimLockdownseinenkostenpflichtigen Premiumbereich frei gestellt hat, um einpositives Zeichenzusetzen. Das hatman eigentlich vonPolitikern erwartet, aber nichtbekommen.Und dann beziehtsichWichsen und Musiknatürlich auch aufdie Frage, wasdie Leuteeigentlich mitdem vielenKlopapiermachen. Siestehenals Musiker und Privatpersonenfür eine offene, toleranteund liberaleGesellschaft. Können Siedie Gegenwartnur ertragen, indemSie darüber Songsschreiben? Urlaub: Meinepersönliche Wahrnehmungund dasMedienecho differieren sehr stark. Ichwohne in Brandenburg, dortsindmir nichtdie ganzeZeit Reichsbürger aufden Fersen.Ja, es gibt sie, aber dieMediengeben denen viel zu viel Aufmerksamkeit. FürmichsindReichsbürgereineArt Scheinriesen.Ich bineherentsetzt, dass ausgerechnetinDeutschland wieder Leutesagen: „Früherwar nichtalles schlecht“. Ichdachteimmer,das hättenwir mittlerweile verstanden.Ich hoffe, mitdiesemAlbum dazu beizutragen,dassich nichtüberEmigrationnachdenken muss. In demfantastischen Song „Einmal einBier“ versetzenSie sich in IhrflüssigesIch.Ist GerstensaftIhreKreativdroge? Felsenheimer: (Gelächter)Nein, garnicht.Ich trinke gern malein Bier, wenn ichzum FC St.Pauli gehe.Die Intentionwar,einen etwasanderen Bier-Songzuschreiben.Diese klassische Punkthematik wollte ichumeine Dimensionerweitern,indem ichihr dieVisioneneines Lewis Carrol oder H.P.Lovecraft hinzufügte. Beim Schreiben war ichbesonders gespannt aufdie Meinungvon Farin undRod. Urlaub: Das hatauch zu derschönen Situationgeführt,dassich alsAntialkoholiker vordem Mikrostand undendlich dieZeilenknödelndurfte„ein frisch gezapftesBiervom Fass“. (lacht)Die Zeilewurde mir aufden Leib geschrieben. Felsenheimer: Farin hattebereits seineSachengepackt,als ichihn fragte, ob er noch dieZeile „Ein frisch gezapftesBiervom Fass“einsingen würde. Da legteerseine Jackebeiseiteund ginggeradezuwürdevoll ansMikrofon. Wiefühlt es sich an,ein neuesAlbum am Startzuhaben,aber nichtauftreten zu dürfen? Urlaub: Lass unsnicht darüberreden! HabenSie das AlbumimHinblickauf seineLive-Aufführbarkeitkonzipiert? Felsenheimer: DieLeute,die zu denKonzerten kommen,wollenvon uns bestimmteSongs hören. Ihre Erwartungshaltung istsehrgroß. Aber wir gehennachsovielenJahrennochauf Tour,umSongs vonunserem neuen Album zu spielen. Andernfalls sähe ichfür mich keinen Sinn,Konzertezu spielen. Urlaub: Wir tunes, weil dieseLiederhaltneu sind.„Westerland“habeich jetztschon dreioderviermal gespielt. Mit„Polyester“ befindet sich auch einAnti-Plastikmüll-Songauf demAlbum. Machen Siesichviele Gedanken um dieUmwelt? Urlaub:Die Leute, diedie Tourneen füruns organisieren,wissen, dass das für unsein wichtigesAnliegenist.Auch,was unserMerchandise angeht. DieVinylausgabenunserer Singles bestehen komplett aus recyceltem Material. Felsenheimer: Wir versuchenauch,soweit es geht, aufdas Cateringund dasWegwerfbesteckinden Hallen Einfluss zu nehmen.Jeder fürsichunterstützt bestimmteOrganisationen. Rods Engagement fürSea Shepherd (eineinternationale Meeresschutzorganisation,die Red.)zum Beispiel habenwir denTextdes Liedes zu verdanken. Tour verlegtauf 2021: 30.11.;1.12. 2.12.WestfalenhalleDortmund. 31

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